Bell’s Theorem (Reductio ad Infinitum): Zeitgenössische Kunst – das ist eine weiße Sache!



Dieser Essay, den Richard Bell im April 2022 kurz vor der Eröffnung der documenta fünfzehn (an der Bell als Künstler teilnahm) schrieb, wurde anlässlich der Ausstellung “RELINKING” (25. Juni bis 4. Dezember 2022) von Richard Bell im Van Abbemuseum Eindhoven in Auftrag gegeben. Seine in der Ausstellung gezeigten Gemälde werden von zwei seiner Essays über die Rolle der Aboriginalen Kunst und Künstler_Innen in der Kunstwelt begleitet. Der erste Essay “Bell’s Theorem: Aboriginal Art – It’s a White Thing!”, ist ein wegweisender Text, der ursprünglich 2002 veröffentlicht und im April 2018 von der Zeitschrift e-flux neu aufgelegt wurde. Der zweite der beiden Essays “Bell’s Theorem (Reductio ad Infinitum): Contemporary Art—It’s a White Thing!” liegt nun in deutscher Übersetzung vor: “Bell’s Theorem (Reductio ad Infinitum): Zeitgenössische Kunst – das ist eine weiße Sache!”

Auszug:

Im August 2003 erhielt Scientia E Metaphysica (Bell’s Theorem) oder “Aboriginal Art: It’s a White Thing” den 20. Telstra National Aboriginal Arts Award – in vielerlei Hinsicht war dies ein wichtiger Moment. Durch das Schreiben des begleitenden Essay Bell’s Theorem habe ich mich mit meiner eigenen Position in der zeitgenössischen Kunst auseinandergesetzt; insbesondere mit den ästhetischen Vorurteilen gegenüber urbanen Aboriginalen Künstler_Innen und Praktiken[1] und der anhaltenden weißen Dominanz und Ignoranz gegenüber unserer eigenen Stärke.[2] Da es damals noch keine Position gab, habe ich eine erarbeitet. Ich hatte mich 1992 vom Aktivismus zurückgezogen, dem Jahr des Mabo-Prozesses, der den Beginn des Scheiterns der politischen Möglichkeiten für die Entstehung einer übergreifenden Bewegung für die Aboriginalen Landnutzungsrechte auf nationaler Ebene bedeutete. Im Mabo-Prozess wurde erneut das Fehlen jeglicher Rechtsgrundlage für die britischen Invasion des heutigen Australiens untersucht. Eines der zentralen Ergebnisse war die Einführung einer äußerst schwachen, “kulturell”-gebundenen Rechtsform von Indigenen Landnutzungsrechten mit der Bezeichnung Native Title[3], welche vollkommen aus der Luft gegriffen war und nur dazu diente, die Forderung nach echten Landrechten zu beschwichtigen. Mein Essay zielte darauf ab, einer von Siedler_Innen dominierten kunstinstutionellen Landschaft, die unmittelbaren Zusammenhänge zwischen der anhaltenden weißen Herrschaft über und Ausbeutung der Aboriginalen Identität durch den “Aboriginalen” Kunstmarkt, einerseits, und den fatalen Auswirkungen des “Teile und Herrsche”-Prinzips der Post-Mabo-Native-Title-Gesetzgebung, die unser People bereits erfasst hatte und, wie ich immer noch behaupte, die weiße Vorstellungskraft stark einschränkt, andererseits, aufzuzeigen. In den vergangenen Jahren hat sich Bell’s Theorem gewissermaßen als Manifest für meine künstlerische Praxis bewährt. Es ist das Ergebnis jahrelangen Austauschs mit Aboriginal People, nicht nur über Kunst, sondern auch über Kultur, Leben, Politik, alles – über die Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Bell’s Theorem begann die Politik der Bildenden Künste aus den öffentlichen Debatten zu verschwinden und wurde durch einen regelrechten “race war” [Rassenkonflikt] ersetzt, der ab 2001 auch in Australien und anderen Teilen der Welt die Szene beherrschte und bis zur globalen Finanzkrise 2008 und darüber hinaus andauerte. Der konservative Premierminister John Howard hatte sich damals an die Macht geklammert, indem er muslimische Flüchtlinge beschuldigte, ihre Kinder auf der Suche nach Asyl ins Meer zu werfen. Die australische Regierung hatte bereits Flüchtlingslager in der Wüste errichtet, die Konzentrationslagern gleichkamen. Nach dem Fall der “über Bord gegangenen Kinder” wurde die “Pazifische Lösung” eingeführt, die darin bestand, diese Menschen unrechtmäßig und auf unbestimmte Zeit auf abgelegenen Pazifikinseln in Internierungslagern abzuschieben. Viele dieser Menschen leben auch 20 Jahre später noch in der Hölle der vor der Küste gelegenen terra nullius. Der gescheiterte Yorta-Yorta-Prozess war die maßgebliche Grundsatzentscheidung über die Landnutzungsrechte (Native Title) zu dieser Zeit: Der Richter begründete 1998 die Verweigerung der Landrechte der Yorta Yorta mit der unverschämten Vorstellung, die “Flut der Geschichte” habe jegliche rechtliche Anerkennung ihrer traditionellen Gesetze und Bräuche “weggespült”. Ich vermute, dass sich die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen inszenierten Rassenkonflikten und faktischem Landraub anhand des Anstiegs und Rückgangs der Verkäufe von Aboriginaler Kunst nachvollziehen lassen, aber nur wenige Menschen wagen überhaupt in diese Richtung zu denken.

Eine Aboriginale Kritik (von vielen)

Für die australische Kunstwelt und die breitere Öffentlichkeit bestand das Schockierende an Bell’s Theorem darin, dass es deutlich machte, wie schlecht unsere Arbeit platziert wurde, wenn man bedenkt, dass die Gesamtzahl der weltweiten Verkäufe von Aboriginaler Kunst zehnmal höher war als die von nicht-Indigener australischer Kunst. Auch in Bezug auf den Gesamtwert der internationalen Verkäufe übertraf die Aboriginale Kunst die Verkaufszahlen der nicht-Aboriginalen Künstler_Innen bei weitem. Sie war größer, besser und weitaus bedeutender als die nicht-Indigene australische Kunstszene, was bis dahin in keiner der angloamerikanischen Kolonien der Fall gewesen war. Noch in den 1980er Jahren, als die Einführung nationaler Aboriginaler Landrechte noch als politische Möglichkeit galt und von der australischen Bevölkerung in einem bis dato beispiellosen Ausmaß unterstützt wurde, wurden 80–90% der Aboriginalen Kunst nach Übersee verkauft und wurden von australischen Kunstinstitutionen kaum gesammelt. Die Preise für einzelne Werke von Malern wie Emily Kngwarreye und Rover Thomas explodierten förmlich. Daher war es für die Leute schockierend, dass Aboriginal People so wenig Kontrolle über unsere Kunst hatten und so wenig davon profitierten bzw. zurückbekamen. Bis zu diesem Zeitpunkt war dies eine völlig unausgesprochene und unaussprechliche Tatsache. Und es stand im Widerspruch zu all den weißen Fantasien postmoderner Versöhnung, mit denen die australische Kunstwelt und das juristische Establishment, die Museen und Mabo, ihre Vorherrschaft zu mystifizieren suchten.

Die Kunst war immer ein Teil dessen, was wir schon immer als unser rechtmäßiges, gestohlenes Erbe zurückgefordert haben. Sie war und ist untrennbar mit der Aufrechterhaltung unserer Kultur und Wirtschaft verbunden. Wenn wir unser Land nicht zurückerhalten, ist unsere Kultur – deren Ausübung uns verboten wurde – alles, sie bleibt alles, was wir noch haben. Bis in die 1960er und 1970er Jahre mussten jene Aboriginal People, die unter staatlicher Obhut standen, die Erlaubnis der staatlichen Wohlfahrt und der Missionare einholen, wenn sie etwas kaufen oder verkaufen wollten, das mehr als zehn Pfund wert war! Dies ist einer der Gründe, warum der alltägliche Extraktivismus und die Selbstbezogenheit der Kunstwelt, die wir erdulden, so schmerzhaft, sinnlos und banal ist. Es ist genau diese banale missionarische Kultur, mit der wir regelmäßig konfrontiert werden, wenn weiße Kurator_Innen und Institutionen meinen, uns in erster Linie zu helfen, obwohl sie uns lediglich professionelle Möglichkeiten zur Realisierung unserer Projekte bieten. Als die Redfern–Aktivisten Billie Craigie und Cecil Patton in einer durchtriebenen Nacht im Jahr 1979 aus einer kommerziellen “Aboriginalen” Galerie in Sydney, die von einem Weißen betrieben wurde, die Gemälde von Yirawala stahlen – wichtige Gemälde eines bedeutenden Künstlers aus dem Arnhem Land, die sich fast vollständig in der Hand einer weißen Frau befanden –, führten sie zu ihrer Verteidigung an, dass sie Aboriginal People seien, die Gemälde der Aboriginalen Gemeinschaft gehörten, und sie somit der Ansicht waren, die Bilder auf diese Weise rechtmäßig an sich nehmen zu können, um sie zu schützen — und sie gewannen den Prozess.[4] Diese Art von politischer Solidarität und unangepasster [non–aligned] Vorstellungskraft wurde durch die Native Title völlig ausgehebelt.

Australien war die erste Nation der Welt, die das Prinzip der weißen Vorherrschaft ganz offiziell durchsetzte.[5] Der Völkermord dauerte ununterbrochen an und war bis ins 21. Jahrhundert hinein rechtlich verankert.[6] Als es in den 1950er und 60er Jahren seine Wirtschaft mit Hilfe der US–amerikanischen Staatsmacht über Südostasien “internationalisierte”, widmete das Land dem Aboriginalen künstlerischen Schaffen, egal ob “traditioneller” oder anderer Art, nach wie vor nur wenig seiner kolonialen Aufmerksamkeit. Die Tatenlosigkeit und Rückständigkeit der bedeutendsten Organisationen für zeitgenössische Kunst im Hinblick auf das Sammeln und Ausstellen von Werken, als auch auf Bemühungen, ein echtes Interesse an den Aboriginal People zu entwickeln, waren eine Schande. Es bedurfte der Landrechte und des aktivistischen Einsatzes urbaner Aboriginaler Künstler_Innen, damit die mangelnde Beachtung der Siedler-Kunstinstitutionen zu offensichtlich wurde, um sie zu ignorieren. Zweifellos lag der Höhepunkt der Aboriginalen Selbstbestimmung über ihre eigene Kunst nicht 1995 oder 2020, sondern 1975, als das erste staatlich beratende Gremium für Aboriginale Kunst mit einer Mehrheit von 15 Aboriginalen Mitglieder_Innen einberufen wurde. Sie setzten auf gemeinschaftsorientierte Zusammenarbeit vor Ort und darauf auf Tour zu sein: anhand von Bildungsmaßnahmen und mobilen Produktionseinheiten, Schwarzem Film und Schwarzem Theater. Dabei haben sie traditionelle Formen nicht ersetzt, sondern sich mit den Menschen und aktuellen Themen direkt vor Ort auseinandergesetzt, und zwar mittels der für sie relevanten Medienformate, die sie unmittelbar erreichten. Wir wussten, dass wir Kunst brauchten, und wir hatten eine ausgeklügelte Medientaktik. Auf diese Weise bin ich Künstler geworden – ich habe gelernt, wie man die Medien nutzt, auch wenn die Zahlen nicht auf unserer Seite sind, was eigentlich immer der Fall ist. Wir bilden 3 Prozent der Bevölkerung und leben mehrheitlich in den Städten, weit weg von unseren angestammten Gebieten: Daher stellte eine Form der Dekolonialisierung, wie sie von den Algeriern definiert und auf strategische Weise angestrebt wurde, für uns einfach keine realistische Option dar.

Nachdem sie drei Jahre den Laden geschmissen haben, wurde das Aboriginal Art Board wieder aufgelöst. Sotheby’s gründete 1978 in London seine Abteilung für “primitive” Kunst und später ein Auktionshaus in Australien, aber die Auswirkungen dieser Jahre auf das gesamte Land waren beträchtlich und wirkten sich auf mehrere Generationen aus. Wie ich bereits in Bell’s Theorem beschrieb: “Die Traumzeit [Dreamtime] entspricht der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Die urbanen Künstler erzählen immer noch Geschichten aus der Traumzeit, auch wenn es sich um Geschichten der Gegenwart handelt. Die Traumpfade [Dreamings oder auch Songlines] (der begehrten “echten Aborigines” aus den am wenigsten besiedelten Gebieten) reichen tatsächlich tief in die urbanen Gebiete hinein. Kurz gesagt, die Dreamings können ohne den wechselseitigen Austausch zwischen den vermeintlich echten Aboriginal People des Nordens und den vermeintlich unechten oder unauthentischen Aboriginal People des Südens nicht abgeschlossen werden.” Die größte Blockade für diese solidarischen Querverbindungen, die materiell begründet sind (es waren gemeinsame Ökosysteme und das Leben der Menschen, die wir verteidigten!), war immer das koloniale Projekt. Bell’s Theorem hat den kulturellen Ausläufer dieser Blockade benannt: die ethnografische Herangehensweise an Aboriginale Kunst, die Autorität der Anthropologen; die Tendenz der Westler_Innen, alles zu klassifizieren, damit sie sich ihr Weltbild zurechtlegen können; die versteckte Ausbeutung “abgelegener” Kunstzentren und deren eindeutige kapitalistische Stammesordnung, die nichts anderes ist als eine Marktordnung, und die weiße Spezialist_Innen als kompetenter in Sachen Aboriginaler Kunst und Identität einstuft als Aboriginal People selbst. […]

Reductio ad Infinitum

Die Documenta ist für viele Europäer_Innen ein Zeichen für die Abkehr von “race”, aber nicht für ihre rassischen Verstrickungen mit dem globalen Süden und Osten. Was in der so genannten “Nachkriegs”-zeit tatsächlich stattfand, war die Umstellung auf das Bruttosozialprodukt als Maß aller Dinge. Man kann nicht die Abschaffung des Faschismus feiern und gleichzeitig den globalen Kapitalismus aufrechterhalten. Der Ausstellungsraum der Nachkriegsbiennale ist sicherlich eine gute Sache, aber sobald die Europäer_Innen in sich gehen, können sie nur sich selbst sehen. Jenseits dieses Weißseins ist der Rest der Welt nicht. Tatsache ist, dass 90 % der Weltbevölkerung nicht weiß sind. Aber das spiegelt sich auf dem Kunstmarkt nicht wider. Möglicherweise wird es nie eine Aufarbeitung dieses Problems geben, weil der Kunstmarkt schlicht und ergreifend mehr von der Notwendigkeit getrieben wird, sich der regulatorischen Kontrolle und der Besteuerung (von “was auch immer”) durch souveräne Staaten zu entziehen, als sich auf einen historischen Fokus oder Sachkenntnis zu berufen. Neue terra–nullius–Zonen wie Zollfreigebiete oder Freihäfen, die speziell für den gesetzlosen Kunstbetrieb konzipiert wurden, werden als direkte Reaktion auf die Klimakrise gebaut, während Kohlendioxid aus den NFTs raucht.[15] Die Aufmerksamkeit des Marktes hat sich durch Afrika, Asien, den Nahen Osten, durch das Schwarzsein hindurch bewegt, aber das ist ein Kalkül, und die Indigene Kunst wird als Nächste an der Reihe sein. Sie wird zwar jetzt als zeitgenössisch vorgestellt, aber sie ist und bleibt “eine weiße Sache”.

Die documenta fifteen wird nicht wie frühere Versionen ausgerichtet sein, und das übliche Publikum wird sich möglicherweise nur schwer zurechtfinden. Manche werden es vielleicht als Angriff empfinden oder sich gekränkt fühlen, weil sie sich oder ihre Kultur nicht wiedererkennen. Wie werden sie auf die Vielzahl von Themen und Ideen reagieren, die durch solche ungewohnten Praktiken aufgeworfen werden? Die vorangegangenen Documentas und die Berlin–Biennalen waren nur eine Vorstufe dessen, und Ausstellungen wie Diversity United fungieren lediglich als Ablenkung. Es wird viele unbekannte Namen geben, die noch nie auf einer prestigeträchtigen Biennale vertreten waren und schon gar nicht in einer großen Institution ausgestellt haben. Es ist das Verschulden der Institutionen und der Kurator_Innen, dass sie nicht in der Lage waren, diese Menschen zu finden. Viele Fragen müssen überhaupt erst noch gestellt werden. Warum waren die Museen und Kurator_Innen nicht in der Lage, sie zu finden? Warum sind diese Künstler_Innen ignoriert worden? Der Grund ist klar: Zeitgenössische Kunst ist eine weiße Sache.

Während ich dies schreibe, wird in Plymouth, dem Hafen von Cook, demnächst eine große und wichtige Ausstellung von Aboriginalen Songlines aus der australischen Wüste zu sehen sein, bevor sie im Musée du Quai Branly (das so unverhohlen anthropologisch und primitivistisch ist) und im gigantischen Preußenpalast des Humboldt–Forums, einem der neoimperialsten Museumsprojekte des 21. Jahrhunderts in Westeuropa gezeigt wird.[16] Wenn gewöhnliche Deutsche diese Art von bedeutender Ausstellung an diesem Ort sehen und ihnen diese Art von Ausstellung als Aboriginal präsentiert wird, dann werden sie in Zukunft nur noch nach dieser Art von Kunst Ausschau halten. Wie werden wir mit dieser Art der Ästhetisierung und Entpolitisierung von wirklich bedeutenden Praktiken umgehen? Es handelt sich um ein Projekt, das von Progressiven vorangetrieben wurde, und konservative Institutionen haben es sich unter den Nagel gerissen und werden es in eine neo–ethnografische Erfahrung verwandeln. Sie geben vor, sich für unsere Kultur und unser Wissen zu interessieren, zeigen aber absolut kein Interesse an der tatsächlichen Apartheid–Situation. Es spricht für den Mangel an geeigneten Ausstellungsorten für komplexe zeitgenössische Werke und für die grundlegende Tatsache, dass die Aboriginale Kunst, selbst wenn sie als zeitgenössisch angesehen wird, ghettoisiert und als etwas Weißes verdinglicht wird. Ich glaube nicht, dass diese Institution in der Lage ist, die nötige Verantwortung für diese Ausstellung zu übernehmen. Seien Sie versichert, dass das Humboldt nicht die einzige große Institution sein wird, die derartige Ausstellungen zeigen wird. Um es ganz deutlich zu sagen: Das ist keine Kritik an der Ausstellung, sondern am Ausstellungsort und an den verschiedenen institutionellen Verflechtungen, mit denen wir es zu tun haben. Es ist ein Urteil über die Unwürdigkeit des Humboldt–Forums, eine solche Ausstellung zu zeigen.

Ich glaube, dass in den nächsten zehn Jahren, wenn sich der Hunger nach Indigenität, nach Ökologie, nach einem neuen Schwarzmarkt für unbekannte “Indigene Kunst”-Praktiken immer weiter ausgebreitet hat, die populärsten Werke auf dem Kunstmarkt die unpolitischsten, harmlosesten und unkritischsten sein werden. Der Markt wird die Gewinner bestimmen. Er wird versuchen, die Menschen, die sich am entschiedensten einsetzen, die sich am deutlichsten artikulieren und gleichzeitig am meisten entmachtet sind, in meinem Land pauschal zu ignorieren, so dass die kritischste zeitgenössische Kunst die geringste Wertschätzung erfährt. Die Galerie Gagosian war mit zwei Ausstellungen von Emily Kngwarreye bereits wegweisend, und über Nacht haben wir mit Steve Martin plötzlich einen “Influencer”. Die Richtung, in die sie sich entwickeln, ist uns allen bestens bekannt. Sie beginnt und endet immer auf dieselbe Weise. Der Markt wird die Exotisierung und damit die Zerstörung der Aboriginalen und Indigenen People und Ländereien weltweit fortsetzen, und der Kunstmarkt wird dabei an vorderster Front mitmischen.

Kein Land, keine Entschädigung, nur eine leicht zu ignorierende Stimme.

Hört auf zu hoffen. Tut lieber mehr.

 

Richard Bell
April 2022

Im Englischen editiert von Rachel O’Reilly.

Aus dem Englischen übersetzt von Manuela Kölke und lektoriert von Sonja Hornung.

Gedruckt erhältlich bei Hopscotch Reading Room, Kurfürstenstraße 14/Haus B, 10785 Berlin oder hier: https://bb2hkw.webador.de/product/9115133/bell-s-theorem-reductio-ad-infinitum .

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Anmerkungen

[1] [Als europäische Übersetzer_Innen und Lektor_Innen haben wir uns gemeinsam mit Richard Bell bewusst dafür entschieden, so nah wie möglich an den vom Künstler gewählten Begriffen für seine Identifikation und politische Zugehörigkeit zu bleiben. Das Wort “Aboriginal”, ebenso wie das rassistische Wort “Aborigine”, welches im deutschen Sprachgebrauch überwiegend verwendet wird, ist in seiner Ableitung von den lateinischen Wörtern für “von” und “origine” für “Anfang” oder “Ursprung” ein Relikt des europäischen Kolonialismus. In Anbetracht der Tatsache, dass dieses Wort (und diese Figur) von der europäischen Vorstellungskraft erfunden und von nicht-Indigenen Jurist_Innen, Kolonialbeamt_Innen und Wissenschaftler_Innen im Laufe von Jahrhunderten des Kolonialismus mehr als sechzig Mal revidiert wurde, verbleibt jeglicher Versuch einer präzisen Begriffsbestimmung unweigerlich diesem kolonialen Rahmen verhaftet. Bis heute ist der Begriff in der modernen australischen Siedlerkolonialgesetzgebung verankert, die dadurch weiterhin die tatsächliche Vielfalt von Hunderten regional unterschiedlicher Indigener Stammesgruppen, ihrer Verwaltungssysteme, Territorien, Ökosysteme, Kulturen und Sprachen verleugnet.

Besonders wichtig für diesen Essay ist jedoch hervorzuheben, dass pan-Indigene politische Bewegungen in Australien, die sich auf dem ganzen Kontinent kollektiv für Bürgerrechte, soziale Gerechtigkeit und Landrechte gegenüber dem Siedlerstaat einsetzten, sich das Adjektiv “Aboriginal” sich im zwanzigsten Jahrhundert auf strategische Weise angeeignet haben. Mit dieser politisierten, nicht-essentialistischen und historisch spezifischen Gegenverwendung des Wortes Aboriginal, auf die sich Bell bezieht, sind die deutschen/europäischen Leser_Innen bislang nur wenig vertraut. Der Autor wechselt im gesamten Essay zwischen der politisierten und der kolonialen Bedeutung – die koloniale Verwendung erscheint in Anführungszeichen oder wird anderweitig kontextuell gekennzeichnet.

Da gängige deutsche Übersetzungen dieses Adjektivs, wie z. b., “einheimisch”, “eingeboren”, “ureingesessen” oder “den Ureinwohner_Innen Australiens zugehörig”, diese vielfältigen historischen, rechtlichen und politischen Verwendungen im australischen Kontext nur völlig unzureichend erfassen, haben wir uns dafür entschieden, das englische Adjektiv “Aboriginal” auch im Deutschen als Adjektiv einzuführen.

Beispielsweise übersetzen wir “Aboriginal Art” mit “Aboriginale Kunst”, und nicht mit “Kunst der Aborigines”. “Aboriginal People” wird mit “Aboriginal People” statt mit “Aborigines” oder “Aboriginale Leute/Personen/Menschen” übersetzt. (“my people” wird mit “meine Leute” übersetzt). “Aboriginal peoples” oder “peoples” wird mit “Aboriginal Peoples” oder “First Peoples” statt mit “Volk (oder Völker) der Aborigines” übersetzt. Im Gegensatz dazu bezieht sich der Begriff “Indigenous”, übersetzt als “Indigen” oder “Indigenous People”, auf “Indigene(s)” oder “First People(s)” auf globaler Ebene, einschließlich der Aboriginal People in Australien. —Anmerkung der ÜbersetzerInnen und LektorInnen.]

[2] Richard Bell, “Bell’s Theorem: Aboriginal Art – It’s a White Thing!”, Kooriweb, November 2002, http://www.kooriweb.org/foley/great/art/bell.html.

[3] Gary Foley, “Native Title is not Land Rights”, Kooriweb, September 1997, http://www.kooriweb.org/foley/essays/pdf_essays/native%20title%20is%20not%20land%20rights.pdf.

[4] David Weisbrot, “Claim of Right Defence to Theft of Sacred Bark Paintings”, Aboriginal Law Bulletin 8–9 (1981), http://www5.austlii.edu.au/au/journals/AboriginalLawB/1981/11.html?fbclid=IwAR1cEBZo2_MblqT7Ud7rYg5WXrs3jLMCKf5xosQcbHoV7Dwfe19UdNrsg.

[5] Das erste Gesetz des neuen australischen Parlaments war das Einwanderungsgesetz [Immigration Act], auch bekannt als die Politik des weißen Australiens [White Australia policy]. Die Aborigines wurden in der Verfassung nicht erwähnt. Siehe: Irene Watson, Aboriginal Peoples, Colonialism and International Law: Raw Law (London: Routledge, 2014), https://www.routledge.com/AboriginalPeoplesColonialismandInternationalLawRawLaw/Watson/p/book/9781138685963.

[6] Ebenda.

[16] Noëlle BuAbbud, “Nightmare at the Museum: An Interview with the Coalition of Cultural Workers Against the Humboldt Forum,” Berlin Art Link, 5. Februar 2021, https://www.berlinartlink.com/2021/02/05/interviewcoalitionculturalworkersagainsthumboldtforum/.

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