Dieser Essay, den Richard Bell im April 2022 kurz vor der Eröffnung der documenta fünfzehn (an der Bell als Künstler teilnahm) schrieb, wurde anlässlich der Ausstellung “RELINKING” (25. Juni bis 4. Dezember 2022) von Richard Bell im Van Abbemuseum Eindhoven in Auftrag gegeben. Seine in der Ausstellung gezeigten Gemälde werden von zwei seiner Essays über die Rolle der Aboriginalen Kunst und Künstler_Innen in der Kunstwelt begleitet. Der erste Essay “Bell’s Theorem: Aboriginal Art – It’s a White Thing!”, ist ein wegweisender Text, der ursprünglich 2002 veröffentlicht und im April 2018 von der Zeitschrift e-flux neu aufgelegt wurde. Der zweite der beiden Essays “Bell’s Theorem (Reductio ad Infinitum): Contemporary Art—It’s a White Thing!” liegt nun in deutscher Übersetzung vor: “Bell’s Theorem (Reductio ad Infinitum): Zeitgenössische Kunst – das ist eine weiße Sache!”
Auszug:
Im August 2003 erhielt Scientia E Metaphysica (Bell’s Theorem) oder “Aboriginal Art: It’s a White Thing” den 20. Telstra National Aboriginal Arts Award – in vielerlei Hinsicht war dies ein wichtiger Moment. Durch das Schreiben des begleitenden Essay Bell’s Theorem habe ich mich mit meiner eigenen Position in der zeitgenössischen Kunst auseinandergesetzt; insbesondere mit den ästhetischen Vorurteilen gegenüber urbanen Aboriginalen Künstler_Innen und Praktiken[1] und der anhaltenden weißen Dominanz und Ignoranz gegenüber unserer eigenen Stärke.[2] Da es damals noch keine Position gab, habe ich eine erarbeitet. Ich hatte mich 1992 vom Aktivismus zurückgezogen, dem Jahr des Mabo-Prozesses, der den Beginn des Scheiterns der politischen Möglichkeiten für die Entstehung einer übergreifenden Bewegung für die Aboriginalen Landnutzungsrechte auf nationaler Ebene bedeutete. Im Mabo-Prozess wurde erneut das Fehlen jeglicher Rechtsgrundlage für die britischen Invasion des heutigen Australiens untersucht. Eines der zentralen Ergebnisse war die Einführung einer äußerst schwachen, “kulturell”-gebundenen Rechtsform von Indigenen Landnutzungsrechten mit der Bezeichnung Native Title[3], welche vollkommen aus der Luft gegriffen war und nur dazu diente, die Forderung nach echten Landrechten zu beschwichtigen. Mein Essay zielte darauf ab, einer von Siedler_Innen dominierten kunstinstutionellen Landschaft, die unmittelbaren Zusammenhänge zwischen der anhaltenden weißen Herrschaft über und Ausbeutung der Aboriginalen Identität durch den “Aboriginalen” Kunstmarkt, einerseits, und den fatalen Auswirkungen des “Teile und Herrsche”-Prinzips der Post-Mabo-Native-Title-Gesetzgebung, die unser People bereits erfasst hatte und, wie ich immer noch behaupte, die weiße Vorstellungskraft stark einschränkt, andererseits, aufzuzeigen. In den vergangenen Jahren hat sich Bell’s Theorem gewissermaßen als Manifest für meine künstlerische Praxis bewährt. Es ist das Ergebnis jahrelangen Austauschs mit Aboriginal People, nicht nur über Kunst, sondern auch über Kultur, Leben, Politik, alles – über die Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Bell’s Theorem begann die Politik der Bildenden Künste aus den öffentlichen Debatten zu verschwinden und wurde durch einen regelrechten “race war” [Rassenkonflikt] ersetzt, der ab 2001 auch in Australien und anderen Teilen der Welt die Szene beherrschte und bis zur globalen Finanzkrise 2008 und darüber hinaus andauerte. Der konservative Premierminister John Howard hatte sich damals an die Macht geklammert, indem er muslimische Flüchtlinge beschuldigte, ihre Kinder auf der Suche nach Asyl ins Meer zu werfen. Die australische Regierung hatte bereits Flüchtlingslager in der Wüste errichtet, die Konzentrationslagern gleichkamen. Nach dem Fall der “über Bord gegangenen Kinder” wurde die “Pazifische Lösung” eingeführt, die darin bestand, diese Menschen unrechtmäßig und auf unbestimmte Zeit auf abgelegenen Pazifikinseln in Internierungslagern abzuschieben. Viele dieser Menschen leben auch 20 Jahre später noch in der Hölle der vor der Küste gelegenen terra nullius. Der gescheiterte Yorta-Yorta-Prozess war die maßgebliche Grundsatzentscheidung über die Landnutzungsrechte (Native Title) zu dieser Zeit: Der Richter begründete 1998 die Verweigerung der Landrechte der Yorta Yorta mit der unverschämten Vorstellung, die “Flut der Geschichte” habe jegliche rechtliche Anerkennung ihrer traditionellen Gesetze und Bräuche “weggespült”. Ich vermute, dass sich die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen inszenierten Rassenkonflikten und faktischem Landraub anhand des Anstiegs und Rückgangs der Verkäufe von Aboriginaler Kunst nachvollziehen lassen, aber nur wenige Menschen wagen überhaupt in diese Richtung zu denken. Continue reading